In den ersten Runden, wenn im Crucible Theatre noch auf zwei Tischen gleichzeitig gespielt wird, sind die Profis für Fans zum Greifen nahe.
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"This is a city that isn't trying to be London", sagt mir ein Plakat auf dem Bahnhofsvorplatz. Sheffield möchte nicht sein wie London, die Gefahr ist überschaubar. Hier ist unter anderem die Heimat des Fußballklubs Sheffield Wednesday, der so heißt, weil seine Mitglieder einst nur an Mittwochen halbtags im Stahlwerk schufteten und danach Zeit hatten für Sport. Sheffield ist eine Stadt, in der Tauben auch dann nicht davonfliegen, wenn man ihnen bis auf einen Schritt nahekommt. Hier leben etwas mehr als eine halbe Million Menschen. Künftig sollen mehr Studentinnen und Studenten dazukommen, die Stadt will sich mit ihren Unis einen Namen machen. Zu den spannendsten Veranstaltungen des Jahres, die Sheffield zu bieten hat, zählt die Weltmeisterschaft im Snooker. Ja, wirklich.

Seit meiner Jugend wollte ich immer schon einmal zur Snooker-WM. Es ist das größte Turnier mit den längsten und dramatischsten Matches des Jahres. Den Austragungsort, das Crucible Theatre, soll ein Mythos umgeben, in der Szene spricht man von der "Kathedrale des Snooker". Ich war früher Vereinsspieler, natürlich weit weg vom Gedanken, damit Geld zu verdienen. Aber ich mag Snooker, man könnte sagen, ich bin fasziniert von dem Sport. Jetzt, mit knapp über 30, habe ich es als Zuschauer zur WM geschafft.

Snooker gilt als Sportart, im Prinzip ist es ein Spiel – das gefällt dem Kind in mir. Es ist die noble und lustigere Variante des Billard. Bälle müssen in einer gewissen Reihenfolge in Taschen versenkt werden. Weil die Spielfläche aber doppelt so groß ist wie die eines Pool-Billardtischs, ist das ganz schön schwierig. Wenn Profis Snooker spielen, merkt man davon aber nichts.

Handyaufnahmen sind im Crucible Theatre verboten. Wenn Ronnie kommt, können die Leute aber nicht anders.
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Ein Stoß wie eine Blume, wenn die Sonne rauskommt

Bei der WM duellieren sie sich im Crucible Theatre, einem verschachtelten Gebäude aus den 1970ern. Im Saal muss absolute Stille herrschen, da kennen Snookerspieler kein Pardon. Draußen am Buffet verkaufen sie Schokobonbons, im Saal werden Leute vom Schiedsrichter ermahnt, wenn sie mit ihrem Konfekt zu laut rascheln. Die Profis hören Zuschauer hinter ihnen atmen. Aus der ersten Reihe könnte man einem Spieler problemlos in der Ausholbewegung ins Queue greifen. Das macht natürlich niemand, das britische Publikum hat Manieren.

Alle sind hier, um Ronnie O'Sullivan zu sehen. Er ist der streitbare Grenzgänger des Sports, der übertalentierte siebenfache Weltmeister mit schlummerndem Werwolf, dem alle paar Vollmonde droht, dass seine schlechten Manieren zum Vorschein kommen. So ist es ihm auch im Viertelfinale passiert, als er die Schiedsrichterin bei seiner Niederlage grundlos anknurrte. Meine Karten musste ich ein Jahr im Voraus kaufen, ohne zu wissen, wer sich überhaupt für die WM qualifiziert, geschweige denn, ob wir O'Sullivan zu sehen bekommen.

Für zwölf Pfund kaufe ich Kopfhörer, die den Kommentar der BBC empfangen. Das zahlt sich aus, Snookerenglisch verdient die Aufnahme ins Weltkulturerbe. Einer der Spieler, so heißt es im Kommentar, spiele "so präzise wie ein Chirurg". Ein anderer hat nicht etwa drei Versuche, um ein Spiel, einen sogenannten Frame, zu gewinnen, sondern nehme "drei Bissen von der Kirsche" – und verliert trotzdem. Die Kugel geht nicht mitten rein ins Loch, sondern treffe "das Herz der Tasche". Und wenn ein Spieler den Haufen roter Bälle aufsplittern will, um sie später leichter lochen zu können, so öffnen sich die Roten "wie eine Blume, wenn die Sonne rauskommt".

Wenn ein Spieler einen Ball verschießt, muss er sich setzen und dem Gegner zuschauen, wie er es besser macht. Er darf nicht zu viel hadern, sollte den Fehler vergessen und auf andere Gedanken kommen. Ist die Milch in meinem Kühlschrank schon sauer? Habe ich den gelben Sack vor die Tür gestellt? Dauert ein Match mehrere Stunden bis in die Nacht hinein, wird es schwieriger, Fehler wegzustecken. Dann hört ein Profi vielleicht bei jedem gelochten Ball des Gegners die Stimme von Nelson aus den Simpsons, wie sie ihn auslacht: "Ha, ha!" O'Sullivan warf sich früher ein Handtuch über den Kopf, um abzuschalten und nicht hinsehen zu müssen, wie der Gegner brilliert. Die Schiedsrichter haben es ihm mittlerweile verboten.

Am Vorplatz des Crucible Theatres ist eine Public-Viewing-Zone eingerichtet, die bei Sonnenschein wirklich Spaß macht.
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Offensive aus China und Saudi-Arabien

Die Spieler müssen Weste und Fliege tragen, Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter ziehen weiße Handschuhe an, damit sie die Bälle beim Auflegen nicht fettig machen. Die Spielfläche ist beheizt, um Feuchtigkeit zu vermeiden und damit die Bälle auf dem grünen Tuch besser rollen. Legt man die Hand auf dem Tisch ab, um den Queue darauf zu führen, fühlt es sich so angenehm an wie eine halbe Stunde alte Wärmflasche.

Ins Crucible Theatre passen 980 Leute. Bei der WM finden Matches in 46 Sessions statt, die Veranstalter können das Theater also 46-mal füllen. Ist jede Session ausverkauft, kommen immer noch weniger Zuschauerinnen und Zuschauer als beim ÖFB-Länderspiel gegen Deutschland im Wiener Happelstadion im vergangenen November. Sollte das Turnier nicht wachsen? Oder wäre es vertretbar, alles beizubehalten, auch wenn sich gut und gerne zehnmal so viele Tickets verkaufen ließen? Im Rahmen der WM zerfleischte sich die Snookerszene an dieser Gretchenfrage.

Gut möglich, dass diese Hecke besser Snooker spielt als ich.
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Saudi-Arabien und China locken mit viel Geld, wollen große Turniere austragen. Der Vertrag mit dem Crucible Theatre läuft noch bis 2027, danach deutet sich ein Wettbieten um die Ausrichtung der WM an. Chinas Topprofi Ding Junhui schlägt ein Rotationsprinzip vor: Wie etwa bei Biathlon-Weltmeisterschaften sollen sich Austragungsorte bewerben können, das attraktivste Angebot erhält den Zuschlag. Der Weltsnookerverband hat längst eine umfassende Partnerschaft mit Saudi-Arabien abgeschlossen, die Sportart ist auch in Nahost beliebt. Viele Stimmen plädieren aber dafür, in Sheffield zu bleiben und vergleichen die Bedeutung des Crucible Theatres mit Wimbledon im Tennis. Es wird eine Frage zwischen Tradition und Multikulti. Die ÖVP hat sich bisher noch nicht zur Causa positioniert.

Während der WM teilt World Snooker ein Werbevideo von der Stadt Sheffield auf Social Media. Darin lerne ich, dass man in Sheffield gut essen gehen kann. Das ergänzt meine vorrangige Wahrnehmung, dass man in Sheffield gut Bier trinken gehen kann. Die Stadt ist in der Realität nicht so zauberhaft wie meine Vorstellung, aber das ist gut so und macht den Charme des Turniers aus. Ob ich wiederkomme? Zumindest nicht im nächsten Jahr. Glaub ich. (Lukas Zahrer, 5.5.2024)