Junge Frau blickt leicht skeptisch in die Kamera
Mundwinkel und Augenbraue sind nur leicht angehoben, man merkt es womöglich gar nicht – aber auf den zweiten Blick sieht man in der Mikromimik die Skepsis der jungen Frau.
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Cal Lightman erkennt allein an der Mimik von Verdächtigen, ob diese lügen. Ein genauer Blick reicht dem genialen Detektiv aus der amerikanischen Krimiserie Lie to Me auf Disney+, und er weiß Bescheid. Und das ist keine reine Serienshow. Bei der Produktion war der weltbekannte Psychologe Paul Ekman dabei, der große Pionier auf diesem Forschungsfeld.

Ekman hat nachgewiesen, dass winzige Regungen der Gesichtsmuskulatur, die sogenannte Mikromimik, unsere wahren Gefühle enthüllen. Er konnte zudem zeigen: In allen Kulturkreisen der Welt gibt es sieben sogenannte Basisemotionen, das sind Trauer, Wut, Freude, Ekel, Angst, Überraschung und Verachtung. Und diese starken Emotionen werden durch die Mikromimik global auf identische Weise ausgedrückt.

Bereits 1978 publizierte Paul Ekman das Facial Action Coding System (FACS), ein Verzeichnis zum Dechiffrieren von Gesichtsausdrücken. Mittlerweile dient das FACS auch in Österreich als Grundlage für eine Vielzahl von Workshops und Ratgeberbüchern. Psychologinnen, Polizisten, Managerinnen, Verkäufer, Kranken- und Altenpflegerinnen wollen das Potenzial der Mimik-Erkennung nutzen. Fachleute arbeiten an Lügendetektoren auf der Basis verräterischer Muskelzuckungen im Gesicht. Doch wie verlässlich sind solche Signale wirklich?

Wut erkennt jeder

"Was wir praktizieren, basiert auf über tausend Experimenten und Forschungsstudien, und aus meiner Erfahrung ist die Trefferquote sehr hoch", sagt der Persönlichkeitstrainer Mike Werder, der in Innsbruck eine Privathochschule für emotionale Intelligenz und Mimik-Expertise leitet. Zwar sei kein diagnostisches Verfahren unfehlbar. Aber an subtilen Regungen der Mimik, die den meisten Leuten im Alltag gar nicht auffallen, könne man tatsächlich sogar Emotionen ablesen, die Menschen vor ihrer Umwelt verstecken wollen.

Einen wütenden Gesichtsausdruck als solchen erkennen, das kann fast jeder, sagt Werder: "Die Augenbrauen ziehen sich zusammen, die unteren Augenlider werden angespannt, die obere hochgezogen, die Lippen zusammengepresst." Das sei die sogenannte Vollexpression dieser Emotion. Im Alltag aber werde man oft nur mit flüchtigen Teilexpressionen konfrontiert, zum Beispiel dem Anspannen der unteren Augenlider. "So etwas durchschauen dann nur noch wenige Leute als Hinweis auf leichten Ärger."

Experten wie er unterscheiden zwischen der Makro- und der Mikromimik: Die Makromimik umfasst Gesichtsausdrücke, die mindestens eine halbe Sekunde lang andauern. Die schwerer deutbaren, nur wenige Zehntelsekunden lang sichtbaren Signale der Mikromimik seien jedoch oft viel aufschlussreicher, sagt Werder. Denn die Amygdala, der Mandelkern im Gehirn und wichtiges Zentrum für die Verarbeitung von Emotionen, sei mit 44 Gesichtsmuskeln verbunden, durch die die mimischen Ausdrücke gesteuert werden. Dadurch werden mit Emotionen behafteten Muskelkontraktionen im Gesicht, die kürzer als eine halbe Sekunde andauern – die Mikromimik also – von der Amygdala direkt ausgelöst, erklärt Werder. "Und zwar noch bevor das Großhirn zugeschaltet wird." Aus diesem Grund transportiere die Mikromimik Emotionen gleichsam ungefiltert.

Enttäuschung in Beziehungen

"Damit wir einfühlsamer miteinander umgehen lernen, ist die Achtsamkeit für solche Signale sehr wichtig", sagt der Persönlichkeitstrainer. Insbesondere die Mikromimik werde im Alltag aber häufig übersehen oder ausgeblendet – was gerade in Beziehungen oft zu Enttäuschungen und Frustration führe. Die Sensibilität für solche Botschaften nehme sogar kontinuierlich ab, sagt er. Wissenschaftliche Studien aus Deutschland mit mehr als 5000 Testpersonen ergaben, dass nur mehr etwa 62 Prozent der durch Mikromimik ausgedrückten emotionalen Botschaften korrekt gedeutet werden.

Einen Grund dafür vermutet Werder in der Digitalisierung. "Teenager spielen manchmal stundenlang gemeinsam Onlinespiele", sagt er. "Aber jeder sitzt dabei in einem anderen Zimmer, und sie kommunizieren ausschließlich über ein Chatprogramm miteinander." Verbringe man seine Freizeit häufig auf solche Weise, fehle das Übungsfeld für die Mimik-Erkennung. "Und was man nicht regelmäßig trainiert, verlernt man bekanntlich schnell."

Manche Signale seien relativ leicht zu lesen. "Zum Beispiel Verachtung", sagt Mike Werder. Diese Emotion zeige sich durch das kurze Einpressen eines Mundwinkels. Meistens werde dabei der Blickkontakt unterbrochen. "Man würdigt sein Gegenüber im wahrsten Sinne des Wortes keines Blickes mehr." Oder ein künstliches Lächeln: "Zieht jemand ausschließlich die Mundwinkel hoch und senkt die oberen Lidfalten dabei nicht ab, kontrahiert also den Augenringmuskel nicht, dann ist seine Freude nur gespielt."

Die klare Unterscheidung anderer Signale der Mimik brauche oft mehr Erfahrung: Ziehe eine Person die beiden inneren Enden der Augenbrauen schräg nach oben, sei das zum Beispiel ein Ausdruck von Trauer. Bei Angst dagegen wandern die Augenbrauen in ihrer ganzen Breite nach oben und werden zusammengezogen. Gleichzeitig heben sich die oberen Augenlider, wodurch weite Teile der Sklera, des weißen Teils des Auges, sichtbar werden.

Nicht unangenehm auffallen

Insbesondere in Krankenhäusern und Pflegeheimen kann die Sensibilität für die Signale der Mikromimik sehr hilfreich sein. "Viele Patientinnen und Patienten wollen nicht unangenehm auffallen", sagt der erfahrene Psychiatrie- und Altenpfleger Erich Roth aus Zizers in der Ostschweiz, der in Workshops bei Mike Werder eine Weiterbildung zum Mimik-Experten absolviert hat. "Auf die Frage: 'Liegen Sie bequem?' antworten sie vielleicht mit einem Nicken. Aber auf der Ebene der Mikromimik zeigt sich, etwa durch Zusammenpressen der Augen und Rümpfen der Nase, dass die Person Schmerzen erleidet und alles andere als bequem liegt."

Ein gutes Beispiel sei auch das Mittagessen. "Vielleicht serviere ich Schweinsbraten mit Knödeln und stelle fest, dass eine Patientin zwar höflich 'danke' sagt, aber ihre Nase kräuselt. Ich kann dann sagen: 'Es gäbe auch ein vegetarisches Gericht zur Auswahl. Hätten Sie darauf mehr Lust?' Oft komme in solchen Situationen ein erleichtertes Nicken als Reaktion."

Eine besondere Herausforderung sind Patientinnen und Patienten mit Demenz. Bei ihnen wird durch den Abbau von Gehirnzellen oft auch die Makro- und Mikromimik beeinträchtigt. "Kenne ich eine Person aber schon länger, reichen oft winzige Regungen der Mikromimik, um zu verstehen, welche Emotion dahintersteckt", sagt Roth. Kräuselte ein Patient früher bei Ekel die Nase, so bläht er vielleicht jetzt nur mehr ganz leicht einen Nasenflügel. Und husche bei einer angebotenen Speise auch nur die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht, sei ziemlich sicher, dass dem Patienten dieses Gericht schmecken werde.

Filmstill von Detective Carl Lightman in der Serie
Detective Cal Lightman, gespielt von Tim Roth, kann man in der Serie "Lie to Me" nichts vormachen – er ist Experte im Lesen von Mikromimik.
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Auch bei Menschen, die an Depressionen leiden, helfe die Mikromimik. Solche Patienten seien oft sehr verschlossen, würden kaum reden, erzählt Roth. Wochenlang. Meist versuche er es erst einmal mit Smalltalk. "Vielleicht spricht jemand auf Fußballergebnisse gar nicht an, aber wenn ich über Eishockey zu plaudern beginne, zeigen sich eines Tages plötzlich zarte Signale von Interesse im Gesicht." Da hake er dann ein.

Versteckte Emotionen

Wieder andere Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Kliniken seien aggressiv. "Manche schreien herum und beleidigen das Pflegepersonal", erzählt er. "Die Mikromimik zeigt in solchen Situationen aber häufig, dass unter der Wut starke Trauer liegt." Insbesondere auf diese "verdeckte Emotion" versuche er dann einfühlsam zu reagieren. "Oft hilft es schon, den Patienten zu zeigen, dass man ihnen zuhört und sie für ihre Gefühle nicht verurteilt." Empathie allein könne zwar keine Krankheiten heilen, sei aber eine gute Basis für jede Art von Behandlung.

Und das Erkennen von Lügen anhand der Mikromimik? "Es gibt kein Signal, das für sich allein ein klares Indiz für eine Lüge wäre", stellt Persönlichkeitstrainer Werder klar, egal ob aus Höflichkeit oder Verschlagenheit gelogen werde. Kämen aber mehrere dafür typische Signale zusammen, dann deute das sehr wohl auf eine Lüge hin. Antworte jemand auf die Frage "Sind Sie fremd gegangen?" mit "Nein", nicke dabei aber ganz leicht mit dem Kopf und zucke mit der linken Schulter, frage er vielleicht nach: "Heißt das, Sie sind immer treu?" Antworte der Gesprächspartner dann mit "Ja", schüttle zeitgleich aber leicht den Kopf, dann wären das schon der dritte Hinweis – und die Person lüge ziemlich sicher.

Auch wenn er sich nicht für einen so begnadeten Detektiv wie Cal Lightman aus der Krimiserie Lie to Me hält, trainiert Mike Werder in Workshops auch Polizeibeamte. Erste Auswertungen von Verhören legen nahe, dass die erfolgreiche Zugriffsrate um bis zu 20 Prozent gestiegen ist, seit die Fahnder die Verhöre auf Video aufzeichnen und verstärkt auch die Mikromimik von Verdächtigen analysieren.

Schulfach für Empathie gefordert

Im Spital- und Pflegebereich wiederum spielt das Thema Schmerz eine große Rolle. Ingenieure wollen die Erkenntnisse der Mimikforschung dafür nutzen, solche Empfindungen aus der Ferne zu erkennen. "Nach Vollnarkosen erleben viele Patientinnen und Patienten eine Phase, in der sie noch nicht voll bei Bewusstsein sind, aber sehr wohl Schmerzen spüren können", erzählt der Medizintechniker und Experte für Künstliche Intelligenz Jaspar Pahl vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen.

"Eine Kamera beobachtet das Gesicht von Patienten und kann Alarm auslösen, sobald sich Anzeichen für Schmerzempfindung zeigen", erklärt Pahl das System, an dem er und sein Team arbeiten. Aus Datenschutzgründen erfreulich: Es werden keine Videoaufnahmen, sondern nur die jeweiligen Bewegungen der Gesichtsmuskeln von der Technologie ausgewertet. Schon in wenigen Jahren könnten solche Hilfsmittel in ersten Spitälern und Pflegeheimen eingesetzt werden, hofft Pahl.

Der Persönlichkeitscoach und Akademieleiter Mike Werder hält es für gut denkbar, dass sich solche Hilfsmittel etablieren werden. Ihm persönlich liegen aber weniger technologische Anwendungen am Herzen. Sein Ziel ist es, dass die Fähigkeit, Mikromimik zu "lesen", und der einfühlsame Umgang mit Emotionen als wichtige Ressource für die Gesellschaft erkannt werden: "Wir sollten da bereits in den Schulen ansetzen." In Dänemark etwa gebe es an Mittelschulen seit 1993 das Unterrichtsfach Empathie, erzählt er. "Ein solches Fach wünsche ich mir auch für die Schülerinnen und Schüler in Österreich." (Till Hein, 29.4.2024)